Adipositas als Krankheit anerkannt

Rednerfoto Alexander Krauss, MdB

Was heisst das denn jetzt eigentlich genau?

Vorab: Es gibt in Deutschland kein „Bundesamt für die Anerkennung von Krankheiten“. Entsprechend hängt auch weder im Bundeskanzleramt in den Fluren eine Liste aller anerkannten Krankheiten, noch liegt sie in einem Büro des Bundesgesundheitsministeriums zur Einsicht aus. Insofern wird jetzt auch niemand irgendwo unter dem Buchstaben A eine neue Krankheit hinzufügen. Was hat es also damit auf sich und was bringt das für die Zukunft? Der Status quo ist wie folgt: Die WHO hat Adipositas als Krankheit anerkannt.


Es gibt einen ICD-Code für Adipositas – E66 – mit mehreren nach Schwere und Ursache differenzierenden Untergliederungen. Das D in ICD steht dabei übrigens für Diseases. Die S3-Leitlinie der DAG zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ (2014) beginnt die Einleitung mit „Adipositas ist eine chronische Krankheit …“
Das Bundessozialgericht urteilte bereits 2003 „Erfordert die Adipositas eine ärztliche Behandlung, so belegt das zugleich die Regelwidrigkeit des bestehenden Zustandes und damit das Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungs-rechtlichen Sinne“

Wo liegt also das Problem?

Das Problem liegt in der Erstattung der Therapie durch die Krankenkassen. Allein aus dem Vorliegen einer Erkrankung leitet sich nicht automatisch ein Erstattungsanspruch ab und wir wären nicht in Deutschland, wenn der Weg zur Erstattung nicht denkbar komplex geregelt wäre.

Zuallererst muss grundsätzlich zwischen stationärer Behandlung und ambulanter Behandlung unterschieden werden. Bei stationärer Behandlung (vereinfacht: „im Krankenhaus“) gilt die Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt. Das bedeutet, dass prinzipiell erst einmal alles gemacht werden darf, was der Krankenbehandlung dient, also Erfolg verspricht und den Regeln der ärztlichen Kunst entspricht. Nach einer Prüfung dürfen konkrete Behandlungsmethoden aber auch im Krankenhaus verboten werden.

Im ambulanten Bereich ist es hingegen genau umgekehrt, hier gilt das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Außerhalb der Krankenhäuser darf also nur das gemacht werden, was nach vorheriger Prüfung für gut und sinnvoll erachtet wurde.

Geregelt ist das alles im Sozialgesetzbuch (SGB) V und damit müssen wir auch direkt mit einer sprachlichen Unschärfe der vorherigen Ausführungen aufräumen: Es geht eigentlich nicht darum, ob eine Behandlung vorgenommen werden darf, sondern darum, ob eine Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden darf. Kurz: Es geht ums Geld! Wer nimmt denn die Prüfungen der Behandlungsmethoden vor? Die Prüfung wird der sogenannten Selbstverwaltung des Gesundheitssystems überlassen. Hierzu wurde ein Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) eingerichtet, in dem Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen und der Leistungserbringer (Krankenhäuser, Kassen-Ärzte und -Zahnärzte) vertreten sind. Seit einigen Jahren sind auch die Patienten vertreten, dürfen mitberaten, aber nicht mit abstimmen – ein Thema für sich.

Wie ist denn der Stand in Sachen Adipositas?

Sehr übersichtlich: Der G-BA hat nichts entschieden! Das bedeutet, dass es keine Negativentscheidung im stationären Bereich gibt. Aus diesem Grund dürfen in den Krankenhäusern Adipositastherapien durchgeführt und mit den Kassen abgerechnet werden, insbesondere eben auch die adipositaschirurgischen Eingriffe. Für den ambulanten Bereich heißt das aber auch, dass eine Behandlung der Adipositas grundsätzlich nicht erstattungsfähig ist. Was hat das jetzt alles mit der Anerkennung der Adipositas durch den Bundestag zu tun? Am 3. Juli 2020 hat die Regierungskoalition – also CDU/CSU und die SPD – einen Antrag zum Start einer Nationalen Diabetes-Strategie gestellt.

Moment! Diabetes? Es geht doch um Adipositas …

Richtig! Als Vertreter der Interessen der Menschen mit Adipositas haben wir auch für eine Nationale Adipositas-Strategie gekämpft. Wer verfolgt hat, wie schwierig es schon war, einen Konsens der Fraktionen und Ministerien für die Diabetes-Strategie hinzubekommen – der wird vielleicht erahnen, wie schwierig das in einem weniger etablierten Feld ist. Uns wurde auf jeden Fall unmissverständlich gesagt, dass es keine Chance gibt, beides parallel zu machen.

Nun ist aber Adipositas eine der Hauptursachen von Diabetes. Kurz: Adipositas-Therapie ist Diabetes-Prävention! Das war letztlich der Ansatz, um Adipositas als Teil der Diabetes-Strategie zu implementieren, um zumindest einen ersten Teilerfolg zu erzielen. So liest man in dem Antrag im Abschnitt zur Diabetes-Prävention Folgendes: „Ein besonders hohes Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 haben Menschen mit Übergewicht oder einer Adipositas-Erkrankung. Zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland sind übergewichtig, ein Viertel aller Erwachsenen stark übergewichtig bzw. adipös. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3-17 Jahren sind übergewichtig, 6,3 Prozent davon adipös. Das Risiko für Typ-2-Diabetes ist bei adipösen Menschen im Vergleich zu normalgewichtigen Menschen um mehr als das sechsfache erhöht. […] Es ist deshalb wichtig, insbesondere stark übergewichtige oder bereits adipöse Menschen möglichst frühzeitig mit geeigneten Präventionsmaßnahmen zu erreichen und gut zu versorgen, um das Körpergewicht zu stabilisieren oder zu senken. Hier gibt es in Deutschland nach wie vor erhebliche Defizite. […] Die Betroffenen sind Stigmatisierungen und Diskriminierungen ausgesetzt. […]
Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert: Prävention und Versorgungsforschung zu Adipositas und Diabetes mellitus deutlich voranzutreiben. Gegenüber der Bundesärztekammer darauf hinzuwirken, dass Adipositas und damit auch die Notwendigkeit einer gesunden Ernährung und ausreichenden Bewegung in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung verstärkt berücksichtigt wird und sich gegenüber den Ländern für den Ausbau der Lehrstühle an den Universitäten und eine Berücksichtigung in den neuen Studiencurricula einzusetzen.
Darauf hinzuwirken, dass eine individuelle, multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit Adipositas Grad 1 bis 3 in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen ermöglicht und eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Krankenbehandlung sichergestellt wird. Es ist in diesem Zusammenhang auch zu prüfen, ob der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt werden sollte, eine Richtlinie über die multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit einem krankhaften Übergewicht (Grad 1 bis 3) zu beschließen.“
Der Antrag wurde übrigens nicht nur mit den Stimmen der Regierungskoalition angenommen, es hat auch keine der Oppositionsparteien dagegen gestimmt.

Wie finden wir das?

Adipositas ist eine Erkrankung und hat damit den gleichen Stellenwert, wie zum Beispiel Diabetes. Das ist mehr als nur Symbolpolitik, sondern wirklich ein Meilenstein auf dem Weg zur Erreichung unserer Ziele. Es ist hoffentlich auch der Beginn eines Umdenkens …

Es wird anerkannt, dass die Betroffenen stigmatisiert und diskriminiert werden. Leider ist dazu in der Aufforderung an die Bundesregierung nichts mehr zu lesen – hier werden wir noch einige Überzeugungsarbeit vor uns haben.

Prävention und Versorgungsforschung soll vorangetrieben werden. Das ist wichtig, um zu effektiven Präventionsmaßnahmen zu kommen und den Betroffenen in Zukunft Therapien zugänglich zu machen, die den aktuell Verfügbaren überlegen sind. Von 2010-2020 wurde das IFB Adipositas in Leipzig von der Bundesregierung gefördert. Das darf konsequenterweise keine 10-Jahresfliege bleiben und wir werden die Bundesregierung daran messen, wie viele Einrichtungen über welchen Zeithorizont sich ab 2021 mit dem Thema Adipositas befassen. Das Thema hat die Regierung selbst in der Hand, da die Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung erfolgen kann.

All das hilft nichts, wenn nicht die aktuelle und die kommenden Generationen von Behandlern mit dem entsprechenden Wissen ausgestattet auch die angemessenen Therapien an den Patienten bringen können. Darum unterstützen wir die Initiative der Fort- und Weiterbildung in vollem Umfang und fragen zugleich, warum man sich auf die ärztliche Weiterbildung beschränken will und dabei zum Beispiel Ernährungswissenschaftler und Psychologen vergisst.
Beim letzten Punkt schließt sich dann der Kreis zu den anfänglichen Ausführungen. Es soll die individuelle, multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit Adipositas über alle Grade hinweg, zu Lasten der Kassen ermöglicht werden. Leider läuft der Weg dahin über zwei Banden … es ist zu „prüfen, ob der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt werden sollte“.
Ja was denn sonst? Entweder beschäftigt sich der G-BA angesichts des aktuellen Parlamentsbeschlusses mit dem Thema und bringt die entsprechende Behandlung in die Erstattung oder das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) muss dem Auftrag des Beschlusses gemäß die Befassung mit Adipositas forcieren oder der Gesetzgeber beauftragt den G-BA per Dekret.

Es bleibt dann noch die Frage, wie eine solche Regelung im Detail ausgestaltet werden kann. Am einfachsten – aus Sicht der Betroffenen und Behandler – wäre es, wenn die einzelnen Bausteine einer leitliniengerechten Adipositastherapie jeweils zugelassen und über die Krankenkassen abrechenbar wären. Da „einfach“ und „Gesundheitswesen“ einen Widerspruch in sich darstellen und Adipositas eine komplexe Erkrankung ist, die interdisziplinärer Behandlung bedarf, bietet sich ein Disease Management Programm (DMP) als Vehikel an. Ein DMP ist in der Lage, die Silos des Gesundheitswesens sinnvoll miteinander zu verzahnen. Leider führt es nicht automatisch zu flächendeckenden Angeboten.
Jedenfalls haben wir mit den oben aufgeführten Punkten gleich sieben Treffer bei den Themen, die wir in unseren Handlungsempfehlungen 2019 anführen, so dass man schon mal einen Moment innehalten und sich des Teilerfolgs erfreuen kann. Bei aller Zuversicht wird es aber im Detail und insbesondere in der Umsetzung noch genug zu tun geben.

Und was bekommen die Betroffenen jetzt genau? Und wann?

Leider ist unsere Glaskugel gerade in Reparatur, aber sicher ist nicht morgen mit den ersten konkreten Ergebnissen zu rechnen. Die Prozesse unter Einbeziehung des G-BA bemessen sich eher nach Jahren als nach Wochen. Länger würde es insbesondere dann dauern, wenn man zu dem Schluss käme, dass die Studienlage nicht ausreichend sei und entsprechend noch Studien durchgeführt werden müssten. Aber auch in diesem Fall könnten einzelne Behandlungsoptionen für bestimmte Patientengruppen vorzeitig in die Erstattung kommen. Vermutlich wird uns ein gemischtes Bild erwarten, so dass nicht alles auf einmal erstattet wird.
Positive Effekte sind – entsprechend der anfänglichen Ausführungen – vor allem für ambulante Therapien zu erwarten, so dass insbesondere die konservativen Therapien, also die Kombination von Ernährungstherapie, Bewegungsprogrammen und Verhaltenstherapie, in Zukunft bezahlt werden können.

Gespannt dürfen wir auf die Auswirkungen im Bereich der Pharmatherapie sein, da der Erstattung von Medikamenten zur Gewichtsregulierung nicht nur der G-BA, sondern auch der Lifestyle-Paragraph im Weg stehen, der eine Erstattung explizit verbietet.
Im Bereich der Adipositaschirurgie und auch endoskopischen Verfahren, die in einem stationären Umfeld durchgeführt werden, sind keine direkten Auswirkungen zu erwarten, da diese Behandlungen ohnehin bereits durchgeführt und abgerechnet werden dürfen – hier besteht eher noch das Risiko, dass der G-BA die ein- oder andere exotische Methode mit einem negativen Prüfbescheid versieht. Allerdings sind hier indirekte positive Nebeneffekte zu erwarten, da im ambulanten Bereich das vorgeschaltete MMK und die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen nach einem adipositaschirurgischen Eingriff erstattet werden könnten. Eine mögliche Erstattung der lebenslangen Supplementierung von Vitaminen und Mineralstoffen gehört jedoch definitiv in den spekulativen Bereich.

Letztlich müssen wir abwarten, was aber nicht heißt, die Hände in den Schoß zu legen, sondern den Prozess genau zu beobachten und aktiv zu begleiten … In diesem Sinne – auf ein etwas leichteres Leben für die etwas schwereren Menschen!

Andreas Herdt
Quelle: AdipositasSpiegel 2020, S. 106

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