Keine Bremse für Esslust?

Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen – eine Vielzahl adipöser Patienten leidet nicht nur unter Übergewicht, sondern unter psychischen Störungen.

Prof. Dr. Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, erklärt die Komplexität möglicher biologischer, umweltbedingter und psychischer Ursachen für die Entstehung der Adipositas.

Was sind die Gründe für die Entwicklung einer Adipositas?

Adipositas hat sich mittlerweile weltweit zu einer ­Epidemie entwickelt, die Gründe dafür sind vielfältig. Eine große Rolle spielen genetische Ursachen bzw. die familiäre Disposition. Zu diesen biologischen Risikofaktoren kommen allerdings umweltbedingte hinzu: Den Menschen in westlichen, industrialisierten Ländern steht schmackhafte Nahrung im Überfluss zur Verfügung. Genetisch betrachtet befinden wir uns aber noch im ‚alten Ägypten’. Das heißt, unsere inneren Regelsysteme, in der medizinischen Fachsprache Homöostasesysteme genannt, sind genetisch auf Nahrungsmangel programmiert, aber nicht auf Nahrungsüberfluss.

Können Sie das näher erläutern?

Der Hypothalamus, ein wichtige Schaltzentrale in unserem Gehirn, regelt alle Homöostastesysteme, unter anderem die Körpertemperatur, den Kreislauf und die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme. Aufgrund unserer biologischen Mechanismen können wir mit Nahrungsmangel, aber nicht mit Nahrungsüberfluss umgehen. Das hat in Zeiten der Nahrungsknappheit das Überleben der Menschheit gesichert. Ich habe zu diesem Thema ausführlich einen Genetiker befragt, der mir gesagt hat, dass es noch sehr lange dauern wird, bis wir biologische Strategien für den Umgang mit Nahrungsüberfluss entwickeln werden.

Die Forschung beschäftigt sich ja auch zunehmend mit dem Einfluss des limbischen Systems – des sogenannten Belohnungssystems – auf die Nahrungsaufnahme.

Ja, trotz Sättigung, die ja über die Homöostase signalisiert wird, scheint die Schmackhaftigkeit der Nahrung und das damit verbundene Lustgefühl einen starken Einfluss auf die Nahrungsaufnahme zu haben. In dem Zusammenhang spielen der Neurotransmitter Dopamin und das Opioid- und das Cannabinoidsystem (Substanzen, die eine ähnliche Rauschwirkung wie Haschisch bzw. Cannabis haben, Anm. d. Red.) eine große Rolle.
Erforscht wird derzeit auch das Phänomen der Empfänglichkeit für Belohnung, das bei manchen adipösen Menschen stärker ­ausgeprägt zu sein scheint als bei normalgewichtigen Menschen. Alle diese Forschungen helfen dabei, therapeutische Konzepte weiterzuentwickeln.

Es gibt also kein eindeutiges Risikoprofil, das auf die Entstehung einer Adipositas verweisen könnte?

Nein, es gibt kein eindeutiges Risikoprofil, sondern es sind immer unterschiedliche Faktoren, die zusammenspielen, und so können unterschiedliche Risikoprofile entstehen. Wir konnten zum Beispiel feststellen, dass die Häufigkeit des Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) bei adipösen Kindern, aber auch bei adipösen Erwachsenen erhöht ist. Andere Studien haben gezeigt, dass Kinder mit unbehandelter ADHS ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Adipositas haben. Die erhöhte Impulsivität und das Aufmerksamkeitsdefizit, typische Merkmale einer ADHS, stellen also einen Risikofaktor für die Entwicklung von Adipositas dar, den aber nicht jeder Mensch hat.

Forscher untersuchen einen möglichen Zusammenhang zwischen Impulsivität und Adipositas.

Impulsive Menschen haben prinzipiell mehr Schwierigkeiten, sich zu kontrollieren, auch beim Essen. Sie müssen mehr Kontrollverhalten aufbringen als wenig impulsive Menschen. Das funktioniert nicht immer. Es könnte aber sein, dass durch eine Gewichtsabnahme die Kontrolle verbessert wird. Bei adipositaschirurgischen Patienten, die nach dem Eingriff rasch viel abnehmen, untersuchen wir gerade, ob sich das Kontrollverhalten verändert.

Was bedeuten die Forschungserkenntnisse für die Therapie?

Die Therapien werden kontinuierlich weiterentwickelt und an neueste Forschungsergebnisse angepasst. Die psychologische bzw. psychiatrische Begutachtung eines Patienten vor einem operativen Eingriff sowie gegebenenfalls die postoperative Begleitung in Form von Psychotherapie oder mit entsprechenden Medikamenten ermöglicht eine auf den einzelnen Menschen individuell abgestimmte Behandlung und kann den Gewichtsverlust, die psychische Gesundheit und die Lebensqualität der Patienten positiv beeinflussen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Aus: Wegweiser Adipositas, Interview: Gabrielle Schultz