Nimm doch endlich ab!

Faul und disziplinlos – und selbst schuld.

Adipöse Menschen begegnen im Alltag stereotypen Vorurteilen, die sie im schlimmsten Fall verinnerlichen.

In einer Zeit, in der Medien – allen voran das Fernsehen – einen Schönheitswahn vermitteln, der schlanke und durchtrainierte Körper als Synonyme für beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Ankennung ins Rampenlicht rückt, sehen sich Menschen mit Übergewicht zunehmend ins soziale Abseits gedrängt: Sie seien faul, undiszipliniert und nicht gewillt, gegen ihr hohes Gewicht tatsächlich etwas zu unternehmen. So lauten die häufigsten Vorurteile. Diese Stigmatisierung führt nicht nur in sämtlichen Lebensbereichen – und das bereits im Kindesalter – zu Benachteiligung und Diskriminierung, sondern auch dazu, dass adipöse Menschen die ihnen zugeschriebenen negativen Bewertungen verinnerlichen, sich selbst als defizitär empfinden und sich noch stärker aus dem sozialen Leben zurückziehen. Ein schleichender Prozess der Selbststigmatisierung, der wiederum erheblich zur Verschlimmerung der Adipositas beiträgt.

Renate T. weiß, was es bedeutet, Selbstachtung und ­Lebensfreude zu verlieren: „Nicht nur am Arbeitsplatz oder bei Freunden drehte sich ständig alles um mein Gewicht. Sogar mein Mann, meine Kinder und auch meine eigene Mutter haben mich nur mehr nach den ­aktuellen Kilos bewertet. Anerkennung habe ich nur erhalten, wenn ich nach irgendeiner Diät sichtbar abgenommen hatte. Dazwischen haben sie mich – in bester Absicht – ständig unter Druck gesetzt, der mich krank und ­depressiv gemacht hat. Raus gekommen aus diesem Teufelskreis bin ich über eine Selbsthilfegruppe, die mir mir dabei geholfen hat, wieder selbstbewusser aufzutreten und mich überhaupt auf eine Therapie einzulassen.“

Subtil vermittelte soziale Ausgrenzung

Adipöse Menschen sind im alltäglichen Leben – in der Schule, am Arbeitsplatz, in Bekleidungsgeschäften, in Restaurants – nicht nur ­unmittelbarer ­Diskriminierung ausgesetzt. Subtil vermittelte ­soziale Ausgrenzung erfahren sie beispielsweise durch ­Hindernisse wie zu schmale Sitze in ­Verkehrsmitteln oder zu eng gebaute sanitäre Einrichtungen.

„Zum Thema Stigmatisierung sind unzählige Artikel in ­Medien publiziert worden. Es ist erstaunlich, dass die Stigmatisierung adipöser Menschen genau genommen ein ­sozial akzeptiertes Phänomen ist, das nicht verschwindet. Und das, obwohl ein großer Prozentsatz der Bevölkerung übergewichtig ist. Einfach aus der Annahme heraus, dass Menschen, die so dick sind, selbst schuld seien und dass sie – wenn sie nur wollten – ihr Übergewicht reduzieren könnten. Die Stigmatisierung passiert in allen Lebensbereichen. Auch im Fernsehen. Die Serie ,The Biggest Loser’ demonstriert für mich die schlimmste Form der Diskriminierung. Und das hat natürlich eine negative Rückwirkung. Hinzu kommt, dass Gewichtsreduktionsprogramme nicht besonders effektiv sind. Kurzfristig wirkt alles. Egal, welches Programm, alles hat einen gewissen Effekt, mehr oder weniger. Nur nicht langfristig. Zahlreiche Langzeitstudien zeigen, dass ein sehr großer Prozentsatz der Patienten, die ihr Gewicht reduziert hatten, langfristig wieder alles oder sogar noch mehr zugenommen haben. Der bekannte Jo-Jo-Effekt also. Viele machen eine Diät nach der anderen, ­nehmen oft wirklich immer wieder schön ab und können es dann nicht halten. Im Gegenteil, der Anteil der Menschen mit einem Body-Maß-Index von 40 und mehr nimmt ständig zu“, beschreibt Prof. Dr. Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, die Problematik.

Negative öffentliche Wahrnehmung

Christine H. ist nach zwei Wochen krankheitsbedingter Bettlägerigkeit, in denen sie zehn Kilogramm zugenommen und seitdem 86 Kilo auf die Waage bringt, verzweifelt: „Vorher habe ich mein Gewicht mit Tanzen zumindest halten können. Tanzen macht mir auch riesigen Spaß, aber in die Öffentlichkeit traue ich mich erst wieder, wenn ich abgenommen habe.“ Die Angst, negativ wahrgenommen zu werden, hindert sie nicht nur an der sportlichen Betätigung, sondern raubt ihr zugleich Lebensfreude.
Training allein zu Hause erfordert enorme ­Disziplin und Willenskraft. Der Weg in Fitness- oder Sportklubs stellt oft auch für normalgewichtige Menschen eine Hürde dar. Und diese kann durch ein angeschlagenes Selbstbewusstsein und die nicht ­unbegründete Angst, aufgrund des Übergewichts verspottet zu ­werden, zur unüberwindbaren Mauer anwachsen.

„Effektiver könnte es hingegen sein, statt Empathie Akzeptanz und Achtung für Menschen mit Adipositas in den Vordergrund zu stellen.“

Prof. Dr. Anja Hilbert

Die negative öffentliche Wahrnehmung ­übergewichtiger bzw. adipöser Menschen verstärkt auch deren gesundheitlichen Probleme. Das Forscherteam rund um Prof. Dr. Anja Hilbert von der Universität Leipzig, seit 2015 Präsidentin der größten internationalen Gesellschaft für Essstörungen „Eating Disorder Research Society“ (EDRS), befragte 1158 übergewichtige Deutsche dazu, wie sie mit typischen Vorurteilen gegenüber übergewichtigen Mensch umgehen. (1)

Die Studie förderte besorgniserregende Ergebnisse zutage: Übergewichtige und Adipöse übernehmen die gängigen Vorurteile – sie ­halten sich selbst für faul und undiszipliniert und glauben, dass sie die Schuld an ihrem Übergewicht tragen. Im Rahmen einer weiteren Studie führte die Psychologin Prof. Dr. Claudia Luck-Sikorski, Leiterin der IFB-Nachwuchsforschungsgruppe „Stigmatisierung und internalisiertes Stigma bei Adipositas“ (Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen) an der Universität Leipzig und Professorin an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera, gemeinsam mit Kollegen eine telefonische Befragung von 3003 adipösen Erwachsenen in Deutschland durch: Während bei Übergewicht nur 5,6 Prozent der 3003 Befragten von Diskriminierung berichten, sind es bei leichter bis mittlerer Adipositas zehn bis 18 Prozent, bei schwerer Adipositas fast 40 Prozent. Die Zahlen beruhen auf den Selbstauskünften der Teilnehmer auf die Frage, ob sie schon einmal Benachteiligung aufgrund ihres Körpergewichts erlebt haben. „In dieser Studie wurde zum ersten Mal das Ausmaß gewichtsbedingter Diskriminierung in Deutschland deutlich. Es handelt sich also nicht nur um ein Einzelphänomen, sondern betrifft vor allem Frauen mit höherem Gewicht. Während 7,6 Prozent der Männer mit Adipositas über gewichtsbedingte Diskriminierung berichten, ist dieser Wert bei Frauen mit 20,6 Prozent ungleich höher“, so Prof. Dr. Claudia Luck-Sikorski. (2)

Stigmatisierung und Selbststigmatisierung

Stigmatisierung und Selbststigmatisierung führen unweigerlich zu herabgesetztem Selbstwertgefühl und verminderter Fähigkeit zur Problembewältigung (Coping) und drängen adipöse Menschen häufig in eine Opferrolle. Diese Folgen der Stigmatisierung, die als hohe Risiko-faktoren für psychische Leiden wie Depressionen oder Angststörungen gelten, werden teilweise von Ärzten, Therapeuten oder Diätassistenten unterschätzt oder nicht als wesentliches Problem akzeptiert. Viele vertreten die Meinung, es müsse reichen, adipöse Mensche zu eigenverantwortlichem Handeln in Hinblick auf Ernährung, Bewegung und Lebensstil zu animieren. Diese Haltung und der ohnehin zu hohe Zeitdruck bei Arztbesuchen führt in der Regel zu noch mehr Frust bei den ­Betroffenen und zu einer Verschlimmerung der Gesamtsituation. „Die Adipositasforschung hat gezeigt, dass die psychische Belastung durch Stigmatisierung und das Selbststigma zu Depressionen, Angststörungen und zu einer weiteren Gewichtszunahme führen kann“, so Prof. Dr. Martina de Zwaan.

„Die Adipositasforschung hat gezeigt, dass die psychische Belastung durch Stigmatisierung und das Selbststigma zu Depressionen, Angststörungen und zu einer weiteren Gewichtszunahme führen kann.“

Prof. Dr. Martina de Zwaan.

„Für das Kindes- und Jugendalter wurde in Längsschnittstudien sogar gezeigt, dass gewichtsbezogene ­Diskriminierung einen geringeren Selbstwert, eine beeinträchtigte Lebensqualität, eine vermehrte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Essanfälle sowie Diätverhalten, depressive Symptome und sogar Suizidgedanken und –versuche vorhersagt, auch nach Kontrolle des Körpergewichts“, schreiben Prof. Dr. Anja Hilbert und ihre Kollegen Dr. Jens Ried, Dr. Stephan Zipfel und Prof. Dr. Martina de Zwaan in dem Positionspapier „Stigmatisierung bei Adipositas“ des Kompetenznetzes Adipositas.(3)

Interventionen zur Reduktion von Selbststigmatisierung

„Das Selbststigma geht in Querschnittstudien deutlich mit ­depressiven Symptomen, Ängsten, geringem Selbstwert, ­Essstörungspsychopathologie, sozialen und Verhaltensproblemen und einer verringerten Lebensqualität einher. Diskriminierungserfahrungen, zum Beispiel kritische ­Kommentare zu Figur oder Gewicht, scheinen darüber hinaus besonders in ­vulnerablen Gruppen mit psychischen Auffälligkeiten ­assoziiert, darunter Patienten in Gewichtsreduktionsgruppen oder Kinder mit Essanfällen. (…) Diskriminierungserfahrungen scheinen den Erfolg konservativer Adipositastherapien ­negativ zu prognostizieren. Umgekehrt verbleibt ein residuales Stigma selbst bei einem Gewichtsverlust auf Normalgewicht,“ erklären Prof. Dr. Anja Hilbert und Kollegen.(4) Das Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen, ein gemeinsames Zentrum des Universitätsklinikums Leipzig und der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, sieht hier einen besonderen Bedarf, das Phänomen gewichtsbezogener Stigmatisierung genauer zu erforschen, Erscheinungsformen und Auswirkungen des Selbststigmas in unterschiedlichen
Lebensbereichen zu untersuchen und Modelle für therapeutische Interventionen mit interdisziplinären Ansätzen zu entwickeln.

Akzeptanz und Achtung

Da Adipositas weltweit weiter zunimmt bei gleichzeitig nur wenigen wirksamen Behandlungsmöglichkeiten, ist es wichtig zu verstehen, welche Mechanismen den Erfolg von Adipositastherapien ­vereiteln. Sikorski sucht nach therapeutischen Ansätzen, wie dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann. „Für eine ­verbesserte Adipositastherapie ist unsere Arbeit wichtig, weil wir nicht darauf vertrauen können, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Adipositas in absehbarer Zeit verbessert. Deshalb sollten wir den Betroffenen Mittel und Wege zum Umgang mit Stigmatisierung aufzeigen. Dies sollte ein integraler Bestandteil der Adipositastherapie werden”, erklärt die Wissenschaftlerin. Im Gegensatz zu anderen stigmatisierten Gruppen (wie HIV-Patienten) haben Studien zufolge Strategien zur Förderung von Mitgefühl gegenüber ­adipösen Jugendlichen und Erwachsenen ­entweder keine Veränderung oder sogar eine Verschlechterung der stigmatisierenden Einstellungen bewirkt. „Möglicherweise wurde das ‚Stereotyp’ Schwäche verstärkt, indem die übergewichtigen Personen als hilflos, bedürftig oder bemitleidenswert dargestellt ­werden. Effektiver könnte es hingegen sein, statt Empathie Akzeptanz und ­Achtung für Menschen mit Adipositas in den Vordergrund zu stellen“, empfehlen Prof. Dr. Anja Hilbert und Kollegen.

(Aus: Adipositas Wegweiser, Text: Gabrielle Schultz)

Quellen:

1) Hilbert, A., Braehler, E., Häuser, W., Zenger, M.: Weight bias internalization, core self-evaluation, and health in overweight and obese persons, Int J Obes, 2014;22(1):79-85.
2) Sikorski, C., Spahlholz, J., Hartlev, M., Riedel-Heller, S. G.: Weight-based discrimination: an ubiquitary phenomenon?, Int J Obes, 2016;40(2):333-7.
3) Hilbert, A., Ried, J., Zipfel, S., de Zwaan, M.: Stigmatisierung bei Adipositas, Adipositas: Ursachen, Klinik, Folgeerkrankungen, 2013; 7:151.
4) Vgl. ebd., Seite 151.
5) Vgl. ebd, Seite 152.

Weitere Informationen unter: www.adipositasstigma.de